Lockerung/Aufhebung des Vertragszwangs – Risiken und Nebenwirkungen sind programmiert
Die beiden Krankenkassenverbände santésuisse und curafutura propagieren in schöner Regelmässigkeit die Abkehr vom Vertragszwang, beziehungsweise dessen Lockerung als Allerheilmittel gegen regionale Unterversorgung, Überkapazitäten sowie die Kostenentwicklung im Gesundheitswesen allgemein. Damit soll eine sinnvolle Alternative zum Zulassungsstopp geschaffen werden. Auf den ersten Blick erscheint diese einfache Lösung verlockend, jedoch steckt wie so oft der Teufel im Detail. Ob die gewünschten Effekte damit überhaupt erreicht werden, ist fraglich. Unbestritten ist jedoch, dass mit diesen Ansinnen erhebliche Risiken verbunden sind.
Damit man sich über die politische Forderung ernsthaft Gedanken machen kann, muss zunächst bekannt sein, was der Vertragszwang ist, beziehungsweise was er nicht ist. Der Vertragszwang bedeutet, dass ein zugelassener Leistungserbringer mit jedem KVG-Versicherer abrechnen kann. Die Krankenkasse kann von sich aus einen zugelassenen Leistungserbringer nicht ablehnen, womit die freie Arztwahl im ambulanten Bereich garantiert wird. Der Vertragszwang stellt ferner ein Gleichgewicht dar, der dem Versicherungsobligatorium Rechnung trägt. Keinen Einfluss hat der Vertragszwang auf die Höhe der Vergütung der Leistungen, die bekanntlich durch den TARMED, beziehungsweise einer allfälligen Nachfolgelösung, geregelt wird. Ebenso wenig stellt der Vertragszwang eine gesundheitspolizeiliche Massnahme dar. Ob eine Medizinalperson selbstständig tätig sein darf, wird über die Berufsausübungsbewilligung, die von der kantonalen Aufsichtsbehörde vergeben wird, geregelt. Verstösst ein Arzt gegen die Berufspflichten des Medizinalberufegesetzes (Art. 40), so wird er von der Behörde, welche die Disziplinaraufsicht innehat, zur Rechenschaft gezogen. Vom Vertragszwang nur indirekt betroffen sind zudem alle angestellten Medizinalpersonen, die folglich nicht selbstständig abrechnen. In dem Fall obliegt die Verantwortung in fachlicher wie auch finanzieller Hinsicht dem Arbeitgeber.
Weshalb wird eine Einschränkung des Vertragszwangs gefordert?
Das Hauptargument für die bessere Steuerung der Zulassungen, sei es über hoheitliche Mittel, sei es durch die Versicherer selbst, ist die These der angebotsinduzierten Nachfrage. Darunter versteht man den Effekt, dass ein grosses Angebot, beziehungsweise Überangebot, die Nachfrage künstlich erhöhen kann. Dies kann insbesondere dann problematisch werden, wenn die Nachfrage mit einem fehlenden Kostenbewusstsein verbunden ist. Diese Effekte sollen, so behaupten Kassen und Politik, dazu führen, dass vermehrt ärztliche Dienstleistungen in Anspruch genommen werden, die im Grunde genommen gar nicht nötig sind. Dies sei ein erheblicher Kostentreiber, dem es Einhalt zu gebieten gelte. Die Politik wurde deshalb schon bald nach Einführung des KVG aktiv und verfügte einen Zulassungsstopp für neue Ärzte. Diese Bestimmung bestand während mehr als 10 Jahren als ständig erneuertes Provisorium. Nach der Aufhebung schnellten die Gesuche um Zulassung sprunghaft in die Höhe, weshalb wiederum ein provisorischer Zulassungsstopp verfügt wurde. Ob der Zulassungsstopp tatsächlich seinen Beitrag zur Senkung der Gesundheitskosten leistet, ist umstritten. Einen sprunghaften Anstieg der Gesundheitskosten konnte zumindest im ambulanten Bereich nicht beobachtet werden, zumindest nicht in dem Ausmass, dass ein Zusammenhang zwischen den neu vergebenen Zulassungen und dem Anstieg bejaht werden konnte. Wer sich genauer mit den Fakten vertraut macht, erkennt rasch, wieso die scheinbar einfache These vor allem durch ihre Ungenauigkeit besticht: die Anzahl der Zulassungen ist ein schwaches Indiz, das zu wenig über die tatsächlich erbrachten Leistungen aussagt. So ist es möglich, dass ein Arzt, der lediglich Teilzeit arbeitet, eine ZSR Nummer beantragt, ebenso wie die Gruppenpraxis mit sechs angestellten Ärzten. Bessere Rückschlüsse liesse hier eine Angabe über die Vollzeitäquivalenz zu: Diese ist jedoch genau nicht an die Anzahl vergebener ZSR Nummern gekoppelt. Ebenso wenig wird dem Umstand Rechnung getragen, dass heute eine Vielzahl von Ärzten in Spitalambulatorien tätig ist. Hier stellt sich das gleiche Problem. Schliesslich ist ebenfalls zu bedenken, dass ein Zulassungsstopp zu einem gewissen Nachholbedarf geführt hat und auf der anderen Seite wiederum dazu, dass Ärzte eine ZSR Nummer auf Vorrat beantragt haben. Beides verfälscht das Bild zusätzlich. Ein weiteres Argument, welches von Politik und Krankenkassen ins Feld geführt wird, ist die ungleiche Verteilung von Leistungserbringern: So sei zu beobachten, dass in Ballungszentren und grösseren Städten ein Überangebot besteht, wohingegen in ländlichen, dezentralen Gegenden eine Unterversorgung vorliege. Auch hier ist diese Behauptung mit Vorsicht zu geniessen: so wird ausser Acht gelassen, dass in urbanen Gebieten wesentlich bessere Möglichkeiten bestehen, um in einem Teilzeitpensum tätig zu sein. Umgekehrt kommt es durchaus vor, dass in ländlichen Gebieten – aus welchen Gründen auch immer – mehr als 100% gearbeitet wird.
Es stellt sich somit die Frage, ob der Zulassungsstopp oder die Steuerung über die Krankenkassen überhaupt den gewünschten Effekt erzielen können. Ob ein Überangebot damit bekämpft werden kann, ist unklar. Selbst wenn man davon ausgeht, dass ein solches besteht – was alles andere als bewiesen ist – kann ein direkter Zusammenhang zum Kostenschub nicht ohne weiteres bejaht werden. Selbst wenn dem so wäre, bestehen Möglichkeiten, die Regulierung zu umgehen. In dem angestellte Ärzte weder vom Zulassungsstopp noch vom Vertragszwang betroffen sind, wird eine regulierende Massnahme lediglich dazu führen, dass die Ärzte im Angestelltenverhältnis bleiben werden. Das hat zur Folge, dass indirekt auch Gruppenpraxen gefördert werden, die von den Krankenkassen bereits als Kostentreiber gebrandmarkt worden sind. Losgelöst von einer angebotsinduzierten Nachfrage ist jedoch das mangelnde Kostenbewusstsein zu beachten: hier besteht ein enormes Sparpotenzial, das jedoch an die Eigenverantwortung der Prämienzahler gekoppelt ist. Andere Faktoren wie die demografische Entwicklung und der medizinische Fortschritt sind durch solche Massnahmen ohnehin nicht beeinflussbar und werden deshalb auch in Zukunft zu höheren Kosten im Gesundheitswesen führen. Ebenso wird die Aufhebung des Vertragszwangs nicht dazu führen, dass die Behandlungen günstiger werden. Die Tarife können nicht einseitig von den Krankenkassen festgelegt werden. Somit bleibt ein reiner Wettbewerb im Bereich der Qualität. Ein solcher ist grundsätzlich möglich, jedoch fehlt hierzu die nötige Transparenz. Es darf nicht vergessen werden, dass bereits heute fast die Hälfte der Versicherer freiwillig Einschränkungen bezüglich der freien Arztwahl hinnehmen, um einen Rabatt auf den Prämien zu erhalten. Die Versicherer tun sich jedoch schwer damit, Kriterien, nach welchen die Ärzte ausgesucht werden, festzulegen und zu kommunizieren. In Gegenden, in denen keine Überversorgung besteht, ist die Auswahl wenig eingeschränkt. Überträgt man dem behandelnden Arzt eine Budgetmitverantwortung, setzt man damit zwar den Anreiz, unnötige Behandlungen zu unterlassen, man setzt aber gleichzeitig den Fehlanreiz, kostspielige Behandlungen, die zwar geboten wären, aber dem Arzt Nachteile bringen können, zu unterlassen. Damit würde das Vertrauen in den Arzt drastisch abnehmen. Das Stimmvolk hat im Jahr 2012 anlässlich der Managed-Care-Abstimmung diesem Ansinnen eine deutliche Abfuhr erteilt. Auch die Unterversorgung gewisser Regionen wird durch eine solche Steuerung nicht beseitigt. Es ist zwar möglich, dass die fehlende Möglichkeit, anderswo eine Praxis zu eröffnen als sogenannter Push-Faktor gilt, jedoch genügt ein solcher in der Regel kaum, sofern nicht noch Pull-Faktoren dazukommen. Es dürfen folglich nicht nur Nachteile den Wegzug begünstigen, sondern es müssen auch Vorteile den Zuzug begünstigen.
Es zeigt sich somit, dass die Forderung, den Vertragszwang zu lockern, beziehungsweise aufzuheben, zu keiner markanten Kostensenkung im Gesundheitswesen führen wird. Ebenso wenig lässt sich damit die Unterversorgung nachhaltig lösen. Eine freiwillige Bereitschaft, Einschränkungen punkto freier Arztwahl hinzunehmen, wird damit nicht bestritten. Ein Zwang wird aber weiterhin kaum Aussichten auf Erfolg haben, vor allem wenn die Wirkung nicht erwiesen ist.