Als Gegenvorschlag zur CVP-Iniative «Für tiefere Prämien – Kostenbremse im Gesundheitswesen (Kostenbremse-Initiative)» und als Ergänzung zum ersten Massnahmenpaket für die Kostendämpfung im Gesundheitswesen hat der Bundesrat am Mittwoch, 19. August 2020 ein zweites Massnahmenpaket in die Vernehmlassung gegeben. Insbesondere wird darin zur Eindämmung der Gesundheitskosten die Einführung einer ärztlichen Erstberatungsstelle für alle Versicherten sowie einer Kosten-Zielvorgabe gefordert.
Aktuell können Patienten selbst wählen, ob sie sich von ihrem Hausarzt, ihrer HMO-Praxis oder via Telemedizin beraten lassen, bevor sie einen Spezialisten konsultieren und mit diesem Vorgehen Prämien sparen. Diese alternativen Versicherungsmodelle (AVM) erfreuen sich grosser Beliebtheit: 70 Prozent der Versicherten haben sich zurzeit für ein solches Modell entschieden.
Der neue Vorschlag – der notabene nicht aus dem Expertenbericht von 2017 herrührt, sondern vom BAG stammt – geht nun weiter: Die Kantone und nicht die Krankenversicherer sollen die Erstberatungsstellen definieren und wer ein gesundheitliches Problem hat, muss sich zuerst an eine solche vorgeschriebene Anlaufstelle wenden. Diese Stelle entscheidet über den weiteren Behandlungsweg und überweist den Patienten allenfalls an einen Spezialisten. Der Bundesrat erhofft sich davon Einsparungen durch das Vermeiden von unnötigen Untersuchungen und Behandlungen.
Zwar könnten die Krankenkassen ihren AVM-Kunden auch in diesem neuen System Prämienrabatte anbieten, allerdings würden diese kleiner ausfallen als heute. Somit würden jene Versicherten bestraft, welche sich bereits heute freiwillig für ein AVM-Modelle entschieden haben.
Die Managed-Care-Vorlage wurde im Jahr 2012 an der Urne deutlich verworfen, obwohl der Eingriff in die Patienten-Autonomie kleiner war als die Einführung einer Erstberatungsstelle. Das zeigt auf, dass die AVM deshalb auf breite Akzeptanz stossen, weil sie auf Freiwilligkeit und echtem finanziellen Anreiz gründen.
Die Vernehmlassung lässt offen, wie die Erstanlaufstellen ihre Gatekeeper-Funktion wahrnehmen sollen, um eine sinnvolle und rechtlich risikolose Triage zu vollziehen. Juristisch gesehen bildet hier vor allem das Übernahmeverschulden ein Haftungsproblem: Führt der beratende Arzt seine Diagnose zwar nach bestem Wissen und Gewissen durch, verfügt er aber nicht über das notwendige Fachwissen, haftet er trotzdem für Schäden. Das bedeutet, dass die Medizinalperson der Erstanlaufstelle in einem Zweifelsfall jemanden weiterverweisen muss. Darum kann man davon ausgehen, dass das Einsparungspotenzial bei Überweisungen eher klein ist.
Genauso ungeklärt bleibt die Frage, ob es mit der Anordnung einer Erstberatungsstelle noch möglich wäre, eine Zweitmeinung einzuholen. Angenommen die erste Beratung hat keine Überweisung zur Folge und der Patient erleidet trotzdem Beschwerden: Dürfte er selbst einen Spezialisten konsultieren?
Oder die Patientin wird an den Spezialisten überwiesen, benötigt aber zur Entscheidfindung eine Zweitmeinung. Wäre es erlaubt, eine solche einzuholen?
Die Tatsache, dass der bundesrätliche Vorschlag verschweigt,
nach welchen Kriterien die Erstberatungsstellen entscheiden, lässt den Verdacht
schöpfen, dass nicht das Patientenwohl, sondern einzig die Kostensicht im
Vordergrund steht und bedeutet, dass massiv in das Vertrauensverhältnis
zwischen Arzt und Patient eingegriffen würde.
Besonders chronisch Kranke sind auf eine langfristig gut funktionierende Arzt-Patient-Beziehung angewiesen und wären durch die Einschränkung der freien Arztwahl benachteiligt.
Den Kantonen, Versicherern und Leistungserbringern werden mit der Organisation, Definition, Prüfung und Koordination von Erstkontaktstellen weitere Bürokratie und Kosten aufgebrummt, die letztlich zulasten der Steuerzahler und der Patienten gehen.
Schliesslich wird die Zweiklassenmedizin gefördert, da diejenige, die über die nötigen Mittel verfügen, nach wie vor direkt zum Spezialisten gehen würden – notfalls auch als Selbstzahler.
Zielvorgabe
Wie beim Globalbudget hätte die Einführung einer Vorgabe zur Erreichung des Kostenziels die Rationierung der Leistungen zur Folge, da sie nicht kostendeckend erbracht werden könnten, was wiederum zu Wartelisten führt und die medizinische Versorgung gefährdet. Weshalb sollte die Schweiz solche Fehlentwicklungen in die Wege leiten, wenn im nördlichen Nachbarland bereits erkannt wurde, dass die finanzielle Deckelung im Gesundheitswesen nicht funktioniert? Die damit erhofften Einsparungen konnten nicht erreicht werden, jedoch müssen gesetzlich versicherte Patienten teilweise über Monate auf ihren Termin warten.
Zudem würde die Erreichung der Kostenziele bedingen, dass Versicherer und Leistungserbringer vorgängig die zu ergreifenden Massnahmen vereinbaren. Eine solche Einigung ist absolut illusorisch, denn die Spiesse der beteiligten Stakeholder sind ungleich lang. Man könnte genauso gut verlangen, dass zwei Wölfe und ein Schaf sich darauf einigen, was es zum Nachtessen geben soll.
Zum Vorneherein steht fest, dass es die Leistungserbringer sind, die sich anpassen müssten. Der Bundesrat gaukelt vor, freie Verhandlungen zu ermöglichen, während er deren Resultat bereits kennt.
Zusammengefasst stellen beide erwähnten Massnahmen dieses Sparpakets 2 wiederum einen kapitalen staatlichen Eingriff in das Gesundheitswesen dar, der Qualitätseinbussen und eine Zwei-Klassen-Medizin aber keine Gewähr für Einsparungen zur Folge hat.