Am 10. Juni 2022 fand im SRF eine Arena zum Thema Gesundheitskosten statt. Verschiedene Akteure des Gesundheitswesens diskutierten über die Gesundheitskosten, die Tarife und mögliche Massnahmen, um das Kostenwachstum zu reduzieren. Urs P. Gasche schrieb am Folgetag einen Artikel im von ihm massgeblich mitgestalteten Infosperber, in dem er moniert, man würde nicht über den Tellerrand schauen. Der Artikel verdient kritische Beachtung, da er demonstriert, wie selektiv die Arena aufgenommen wird und wie Lösungsvorschläge eingebracht werden, ohne dass die drastischen negativen Folgen aufgezeigt werden.
Es fällt auf, dass der Fokus sehr stark auf die finanziellen Fehlanreize gerichtet wird. Zudem stellt der Autor den Vorwurf in den Raum, die «Akteure» würden das Parlament in Geiselhaft nehmen und damit Reformen blockieren.
Was der Autor nicht erwähnt, ist die Tatsache, dass ein Vertreter jener Akteure, nämlich Andreas Faller, in der Sendung (ab 58:30) konstruktive Vorschläge anspricht, die von den Akteuren über die Partikularinteressen hinweg erarbeitet worden sind. Das entsprechende Papier ist den Gesundheitspolitikern bereits zugegangen und beinhaltet neben einem Konzept auch konkrete Gesetzesänderungen, die eine Verbesserung des Systems versprechen. Andreas Faller ist Geschäftsführer des Bündnisses freiheitliches Gesundheitswesen, zu dessen Mitgliedern neben anderen Verbänden und Unternehmen des schweizerischen Gesundheitswesens auch die Schweizerische Belegärzte-Vereinigung zählt.
Stattdessen nimmt der Autor einen Vergleich mit anderen europäischen Staaten vor, die das bessere Gesundheitssystem ohne Fehlanreize hätten. Insbesondere fordert er die Anstellung aller Ärzte im Monatslohn. Was er als scheinbare Lösung vieler Probleme anpreist, ist aber auch nicht frei von Fehlanreizen. Die Hauptfehlanreize sind die geringere Motivation, auch nach Arbeitsschluss noch etwas zu leisten und das geringere Verantwortungsbewusstsein. Wer auf eigene Rechnung im eigenen Namen Patienten behandelt, der ist erwiesenermassen bereit, mehr Engagement an den Tag zu legen. Fehlt ein solches, kann dies fatal für den Patienten sein.
Der Vorwurf der Überversorgung aufgrund falscher Anreize ist nicht neu. So pauschal wie der Autor ihn erhebt, ist er aber unzutreffend. Die Corona-Krise hat gezeigt, dass in den Jahren 2020 und teilweise 2021 viele Konsultationen und Behandlungen/Eingriffe aus verschiedenen Gründen nicht oder verspätet durchgeführt worden sind. Teilweise wurden sie untersagt, um Kapazitäten freizuhalten, teilweise getraute sich die Bevölkerung auch schlicht nicht in die Praxen und Spitäler. Die Folge davon sind zwar geringere Gesundheitskosten in diesen Bereichen, jedoch auch eine Bevölkerung mit einer insgesamt schlechteren Gesundheit. Dies hat man insbesondere festgestellt, wenn Patienten in die IPS eingeliefert wurden. Hier wird systematisch der Gesamtgesundheitszustand des Patienten geprüft und erhoben. Dabei hat man gesehen, dass die Patienten insgesamt einen schlechteren Zustand aufwiesen als vor der Corona-Krise, wobei die Coronapatienten nicht miteingerechnet sind. Wird also das hohe Versorgungsniveau reduziert, so hat dies direkte Auswirkungen auf die Gesundheit. Die normalerweise sehr gute Versorgung in der Schweiz mag im Vergleich zu anderen Staaten wie eine Überversorgung aussehen, sie trägt aber massgeblich zu einer guten Gesundheit bei.
Weiter ist zu sagen, dass heute schon ein grosser Teil der Ärzteschaft angestellt ist und somit über einen festen Monatslohn verfügt. Der Autor unterlässt es zu präzisieren, bei wem die Ärzte denn festangestellt sein sollen. Bei einem gewinnorientierten Unternehmen oder beim Staat? Nach seiner Logik muss es der Staat sein, denn ein gewinnorientiertes Unternehmen würde ja die gleichen Fehlanreize mit sich bringen. Es ist somit ein klares Plädoyer für eine Staatsmedizin.
Wenn der Autor den Blick über den Tellerrand verlangt, dann ist er eingeladen, auch die Nachteile der Staatsmedizin, die in anderen Staaten bestehen, wahrzunehmen. Ein Beispiel aus Schweden ist hierfür sehr anschaulich: Die Arbeitszeiten sind so stark reguliert, dass Operationen abgesagt werden, wenn die Gefahr besteht, die Ärzte würden länger als vertraglich festgelegt arbeiten. In Kombination mit der geringeren Spitaldichte und den teilweise langen Anfahrtswegen ist dies alles andere als patientenfreundlich. Ebenso ist der Zugang zu Spezialisten in all den vom ihm erwähnten Staaten mit erheblich längeren Wartezeiten verbunden, als dies in der Schweiz der Fall ist. Vor allem aber ist es illusorisch zu glauben, die Effizienz der Ärzte sei gleich hoch, wenn der Anreiz fehlt. Ein freiberuflicher Arzt hat ein Interesse daran, seine Arbeit gut und zielgerichtet auszuüben. Die meisten Ärzte sehen trotz der Anreize die Gesundheit und das Wohl des Patienten im Mittelpunkt, ein zufriedener Patient ist auch die beste Werbung für einen Arzt. Bei den Spezialisten sind die überweisenden Hausärzte zudem ein wirksames Korrektiv. Der Hausarzt wird seine Patienten nicht an einen Spezialisten überweisen, der im Ruf steht, qualitativ schlecht zu arbeiten oder zu viel und zu rasch zu operieren. Das Bonmot „der freiberufliche Arzt schaut auf den Patienten, der angestellte Arzt schaut auf die Uhr“ ist sicherlich übertrieben, zeigt aber deutlich auf, dass auch der im Monatslohn angestellte Arzt erheblichen Fehlanreizen ausgesetzt ist. Da der Zugang zu medizinischen Leistungen in der Schweiz besser ist, erstaunt es nicht, dass auch die Anzahl der Leistungen höher ist. Aber wie oben erwähnt, geht dies nicht automatisch mit einer Überbehandlung einher.
Auch bei Lösungen wie einem Globalbudget oder Kostenzielen lohnt sich der Blick über den Tellerrand: Deutschland kennt das Globalbudget. Dort ist der Zugang zu Leistungen für gesetzlich Versicherte mit deutlich mehr Wartezeiten verbunden als in der Schweiz, die Kosten nehmen aber weiterhin zu.
Was im Artikel gänzlich unerwähnt bleibt, sind die Folgen einer solchen Staatsmedizin: Die Staatsmedizin würde eine Zweiklassenmedizin mit sich bringen, bei der eine gute Versorgung nur noch einer privilegierten Schicht vorbehalten ist. Beschränkte sich der Staat darauf, nur diejenigen, die über die Sozialversicherungen abrechnen wollen, in ein Angestelltenverhältnis mit Monatslohn zu zwingen, so wäre eine Zweiklassenmedizin die Folge, bei welcher lediglich jene Patienten, die es sich noch leisten können, einen raschen und guten Zugang zu medizinischen Leistungen hätten. Schüfe der Staat ein System, bei dem alle Ärzte zwangsläufig beim Staat angestellt sind, so wäre dies ein Eingriff in die Wirtschaftsfreiheit, der eine Verfassungsänderung nötig machte, da er die Medizin ganz allgemein aus dem liberalen wettbewerblichen System entfernen und daraus eine konzessionierte Tätigkeit machen würde. Selbst in diesem Fall liesse sich eine Zweiklassenmedizin nicht verhindern: Diejenigen, die es sich leisten können, würden sich einfach im Ausland behandeln lassen.
Das jetzige Schweizer Gesundheitswesen ist bei weitem nicht perfekt, jedoch wäre die Alternative, die Urs P. Gasche aufzeigt, ein erheblicher Rückschritt.